Billy Talent Online
  Visions2003
 

Billy Talent - Here Comes The Talent

Autor: Sascha Krüger aus VISIONS Nr. 127

Guten Tag, wir sind BILLY TALENT und wir kommen, um euch ordentlich den Hintern zu versohlen. Zehn Jahre lang haben wir in der kanadischen Enklave an unserer Version von kompromissloser, direkter Rockmusik gearbeitet. Wir haben viele hundert Clubshows gespielt, Bierflaschen an den Kopf bekommen, wurden von der Bühne geprügelt, gehasst, verhöhnt und manchmal auch geliebt. Jetzt ist es da: Unser erstes offizielles Album. Und damit werden wir euch im Sturm nehmen. Believe us.

Neulich sagte Tim Renner, Deutschland-Chef des Musikriesen 'Universal', in einer großen Publikums-Zeitschrift: "Innovation entsteht aus Mutation des Bekannten. Diese Mutation ist es, die uns immer wieder aufs Neue fesselt." Okay: Er meinte das in einem völlig anderen Zusammenhang, und es ist auch eher unwahrscheinlich, dass er bislang von Billy Talent gehört hat. Und wenn, dann nur, weil ihm jemand gesteckt hat, dass die amerikanischen A&R-Kollegen mal wieder nicht aufgepasst haben und ihnen diese (Achtung: Branchenjargon!) 'heiße' Band von einem anderen großen Mitbewerber vor der Nase weggesignt wurde. In einem hat er allerdings Recht: Die Mutation des Bekannten ist es, die Billy Talent zur Band der Stunde macht. Neu ist daran nichts, hat man alles tendenziell ähnlich schon mal gehört; und doch ist es irgendwie anders, eigen. Und auch Sänger Benjamin Kowalewicz gibt unumwunden zu: "Wir sind purer Eklektizismus. Wir sind das Resultat unserer eigenen Musik-Sozialisation. Wir sind das, was entsteht, wenn man all unsere Lieblingsbands in einen großen Topf wirft." Doch auch das wird der Sache nicht wirklich gerecht. Denn ihr nun erscheinendes, offizielles Debüt beweist vor allem eins: Es ist noch lange nicht alles ausgelotet im weiten Feld der harten, brutalen, aber gerne auch mal schönen Gitarrenmusik. Willkommen zu der Innovation, die aus Traditionellem entsteht. Willkommen in der Welt pur und unverfälscht vorgetragener Gefühle. Willkommen in ihrem Kosmos aus alltäglichem Wahnsinn, brillanten instrumentalen Fähigkeiten und einem langjährigem Dürsten nach einer längst überfälligen Anerkennung. Denn Billy Talent sind alles andere als frisch gebackene Newcomer. Seit ziemlich genau einer Dekade machen sie gemeinsam Musik, seit acht Jahren in dieser Besetzung. Im Rahmen eines High-School-Bandwettbewerbs begegneten sie sich zum ersten Mal, als sie dort mit ihren damaligen Bands auftraten. Noch am selben Tag verließen sie ihre aktuellen Schülerkapellen, weil sie in den anderen jeweils das fanden, was sie bei ihren bisherigen Bandkollegen so schmerzlich vermissten: das Feuer. Und den Wunsch, nicht nur ordentlichen Rock'n'Roll zu spielen, sondern etwas anderes zu machen. Weiter zu gehen. Und es, verdammt noch mal, Ernst zu meinen mit dem Wunsch, ein ambitionierter, passionierter Musiker zu werden. Denn in Streetsville, Ontario, einer unbeschreiblich durchschnittlichen White-Trash-Arbeiter-Satellitenstadt am Rande von Toronto, gab es eigentlich keinen Platz für Punkrock, Noise und Innovationen. Dort gab es nur eins: "Aufstehen, arbeiten gehen, nach Hause kommen, Fernsehen gucken und am Ende des Monats hoffen, dass noch genügend Kohle für die Heizung da ist", so Benjamin. "Es ist die Kehrseite des amerikanischen Traums, das sind die Gescheiterten, Desillusionierten, die, die nur noch vor sich hin vegetieren. Es ist so leicht, durchs Raster der Individualität zu rutschen, wenn du in einer solchen Umgebung aufwächst. Bevor du dich versiehst, bist du 50 und hast 30 Jahre lang in einem Nine-to-five-Job all deine Ambitionen aufgerieben." Keine desolate Kindheit also, aber eine ziemlich eintönige und berechenbare. Fragt sich, was schlimmer ist.
Die folgenden Jahre waren "Jahre des Aufbruchs und des weitestgehend unbrauchbaren Rumstocherns", kommentiert Gitarrist und Haupt-Songwriter Ian D'Sa. "Wir haben ziemlich lange gebraucht, um heraus zu finden, dass es nicht reicht, Dinge anders machen zu wollen. Du musst dir vielmehr erst mal im Klaren darüber werden, was genau du anders machen möchtest." Sie nutzten die Zeit, schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch und nicht selten auch mit den ansässigen Prolls, die sie mit Bierflaschen bewarfen, von der Bühne prügelten und bis auf den Parkplatz verfolgten, weil sie sich partout nicht bereit erklären wollten, dumpfen Gröhl-Hardcore oder ordentlichen Haudruff-Punk zu spielen. "Ich kann es ihnen nicht mal verübeln", scherzt Ian. "Denn was wir damals gemacht haben, war schon ziemlich seltsame Musik. Kaum ein Song unter sieben, acht Minuten, häufig mit 15 Tempiwechseln und 27 verschiedenen Parts. Ziemlich ungenießbar. Prog-Punk, könnte man sagen. Schrecklich überambitioniert." Nach einigen im Proberaum aufgenommenen Kassetten enterten sie 1998 erstmals ein richtiges Studio und spielten innerhalb weniger Tage das Album "Watoosh" ein, dessen 2.000 Exemplare im Eigenvertrieb unter die Leute gebracht wurden. "Nicht so schlimm, dass die schon lange weg sind", glaubt Benjamin. "Es ist eine nette Erinnerung an unsere damalige musikalische Vorstellung, aber: Es ist ziemlicher Schrott. Es klingt, als ob Pink Floyd den Punk entdeckt hätten – nur eben auf Schülerband-Niveau."
Bei einem allerdings half ihnen "Watoosh": Zu entdecken, dass sie auf dem Holzweg sind mit ihrer Suche nach dem richtigen Ansatz. Ben: "Wir waren zu verkrampft, haben immerzu versucht, all unsere unterschiedlichen Einflüsse und Ideen in ein und demselben Song unterzubringen, anstatt die Sache einfach mal laufen zu lassen. Seitdem wir aufgehört haben, darüber nachzudenken, wie wir den richtigen Ton treffen, treffen wir ihn plötzlich von ganz alleine. Es ist keine große Kunst, gut zu sein. Du musst nur aufhören, das auf Teufel komm raus zu wollen, dann wird das schon." Als logische Konsequenz trennten sie sich von ihrem (ohnehin etwas, nun ja, einfältigen) Bandnamen Pezz und benannten sich nach einer Figur in dem viel zu schnell wieder vergessenen Rock'n'Roll-Film "Hardcore Logo" von Bruce McDonald. Ben: "Das hat so eine nette Arroganz: Nichts können, aber sich trotzdem Billy Talent nennen - das gefällt mir." Ab dann ging es ziemlich fix voran: Der Radius der von ihnen bespielten Orte wurde größer, das Feedback auf ihre nunmehr immer mehr verdichtete Musik zusehends besser, bis ihnen das wohl obligate Quäntchen Glück endlich zur Seite stand: Die Produzentin der größten Radio-Rockshow Torontos, bekennender Billy Talent-Fan, wechselte in die Chefetage der kanadischen 'Warner'-Dependance und besorgte ihnen innerhalb kürzester Zeit alles, was sie brauchten: einen Anwalt, mit Scott Welch (Alanis Morissette, Audiovent) einen solventen Manager, und schlussendlich einen Labeldeal mit 'Warner'.
Nun sitzen wir hier in der deutschen Niederlassung des Weltkonzerns, einem postmodernen, hochgestylten Glaskasten von enormen Ausmaßen, und reden über Rock'n'Roll. Den zu lernen hatten die Vier ja nun genügend Zeit, aber so ganz klappt das offensichtlich noch nicht: Benjamin Kowlewicz blutet wie ein Schwein, nachdem er sich bei dem Versuch, mit einem Löffel eine Sprudelflasche zu öffnen, die halbe Fingerkuppe abgesäbelt hat. "Hierzulande kann das jedes Mädchen, hat uns eben jemand gesagt. Ich kann das irgendwie nicht. Schon peinlich, oder?" Und auch Drummer Aaron Solowoniuk, ein Baum von einem Kerl, müht sich vergebens an dieser schier unlösbaren Aufgabe. Soll ich mal? Plopp. "Oh Mann, wie hast du das gemacht? Kannst du mir das beibringen?" Spricht's und holt ein paar Flaschen zum Üben. Zu knuffig. Überhaupt haben sie nichts von dem sonst fast unvermeidlichen, proletenhaften Auftreten neumodischer Rockstars. Im Gegenteil: Sie sind extrem smart, höflich, interessiert, scherzen rum und freuen sich aufrichtig darüber, dass sich jemand dezidiert mit ihrer Musik auseinander setzt.
Und wir sprechen noch über etwas anderes: Punkrock. Denn in ausnahmslos jedem bislang erschienenen Artikel über die Band wird behauptet, sie hätten die Koordinaten desselben verschoben, ihn neu definiert, zu einem weiteren Leben verholfen. So weit, so gut, nur: Was genau ist an ihnen Punk? Musikalisch lässt sich das doch, wenn überhaupt, nur in Nuancen, neben vielen anderen Einflüssen ausmachen. Fleißiges Schulterzucken ist die Antwort. Ben: "Wir verstehen das auch nicht so recht. Wir sind näher an The Clash als an den Sex Pistols, wir haben mehr von At The Drive-In, Jane's Addiction – meiner absoluten Lieblingsband überhaupt – und Fugazi als von den Buzzcocks oder Bad Religion. Und unsere Attitüde kann damit auch nicht gemeint sein. Denn wir haben unendlich viel Spaß an dem, was wir tun. Wir tun das nicht, um irgendwelche Phobien oder Kindheitstraumata zu verarbeiten. Wir sind auch nicht explizit gegen irgend etwas, begehren nicht auf, wollen einfach gute, mitreißende Songs schreiben. Wir tun das, weil wir es für außergewöhnliche, arschkickende Rockmusik halten. Punkt."
Diese Meinung teilt derzeit die Welt: Von den lang ersehnten Rettern harter Musik ist die Rede, von dem 'next big thing' – Titelgeschichten mit den einschlägigen Rock-Gazetten sind schon eingetütet. Schon komisch, nach zehn Jahren erfolglosen Rumtingelns, oder? Schon wieder Schulterzucken. "Wir nehmen uns, was das angeht, selbst nicht allzu Ernst", so Ben. "Im Gegenteil: Ich finde das eher lustig, dass wir nun, nach zehn Jahren, plötzlich der heiße Scheiß zu sein scheinen. Wir sind jetzt schon so lange dabei, dass es natürlich schön wäre, wenn wir von nun an überall auf der Welt unsere Songs spielen dürften. Wenn es nicht so kommt: auch gut. Spielen wir eben weiter in Toronto und Umgebung. Daran sind wir gewöhnt." Doch dazu dürfte es, wie gesagt, nicht kommen, und das auch zu Recht: "Billy Talent", dieses gewaltige Monster von einem Debütalbum, dieser klassische Grower, wie man so schön sagt, hat das Zeug zum kollektiven Dauerbrenner. Dank der vielen Einflüsse, der kompromisslosen Moshparts im Tete-a-Tete mit brillanten, sich stoisch in der Hirnrinde einfräsenden Melodien kann sich darauf wohl jeder einigen, der harte, treibende Musik zu schätzen weiß. Denn die Songs sind derart detailliert und clever arrangiert, der Facettenreichtum so vielschichtig und die Liebe zur Kompaktheit derart offensiv, dass jeder einzelne Song ein absoluter Knaller, ein einzigartig wuchtiges Juwel zeitgenössischer Gitarrenmusik ist. Oder, wie Ben es ausdrückt: "Ian schreibt all diese wunderschön gewalttätigen Songs, in denen aber immer ein Fünkchen Hoffnung steckt. Auch in Kompromisslosigkeit und Härte kann Schönheit stecken." Durchaus: Es gibt Parallelen. Refused sind ganz ordentlich mit an Bord, natürlich auch die zuvor erwähnten At The Drive-In, Sparta, No Means No gar oder die längst vergessenen Dub War, es gibt leichte Abstecher in Richtung Emo und, natürlich, auch den ein oder anderen Spritzer Preschpunk. Und wer in diese Platte nur flüchtig reinhört, könnte ihn durchaus in den Mund nehmen, diesen noch sehr jungen, aber schon längst wieder zum Unwort verkommenen Begriff: Screamo. Ian D'sa verzieht das Gesicht, gibt aber zu: "Klar: Wir schreien. Wir spielen laute Musik. Wir sind das, was den großen Labels in Sachen Gitarrenmusik derzeit gut in den Kram passt. Und doch: Unser Ansatz ist ein anderer. Spätestens wenn man uns live sieht, wird das wohl auch deutlich." Was er meint: Billy Talent sind brutal, aber nicht aggressiv. Sie sind hart, aber nicht aufgesetzt. Sie sind monströs, aber nicht künstlich aufgeblasen. Sie sind catchy, aber nicht cheesy. Und sie sind gerne auch mal poppig und griffig, aber nicht, weil das so gut funktioniert derzeit, sondern weil es in ihnen steckt und sie nun mal fantastische Melodien schreiben können. Oder, wie Ben es sagt: "Eine Menge Bands benutzen diesen Kreischgesang, diese Härte und die Gegensätzlichkeit aus Macho-Gründen, um zu zeigen, dass sie toughe Burschen sind. Ich benutze meine Stimme aus dem gegenteiligen Grund: Um gegen diese ganz Machismo-Attitüden anzuschreien. Nichts ist schlimmer als zu dicke Eier." 
Doch genau hier wird die Schwierigkeit liegen: Das muss man den Leuten erst mal klar machen, dass es sich bei ihrer Musik nicht um eine Projektionsfläche für die verkorkste Kindheit, die Homies aus dem Viertel oder die Dämonen in ihren Köpfen handelt. Und sie sind sich dieses Problems durchaus bewusst: "Sicher, wenn du nur unser Album hörst, könntest du schon auf die Idee kommen, dass da vier unausgeglichene, Testosteron-verseuchte Muskelpakete am Werk sind: Wir schreien, wir machen harte Musik, wir drücken dir mit unserem Punch ordentlich eins auf die Nase. Aber wenn du uns siehst, vor allem live, dürfte sich dieser erste Eindruck hoffentlich schnell relativieren. Wir kommen von der guten Seite. Und es gibt nur einen Grund dafür, dass wir manchmal so brutal, so kompromisslos klingen: Es macht Spaß! Es ist ein unbändiges Vergnügen, einfach hemmungslos drauflos zu kreischen."

Der Beweis: ein paar Stunden später auf ihrem allerersten Deutschland-Gig im klitzekleinen, aber brechend vollen Hamburger Molotow. Drummer Aaron und Bassist Jon Gallant drücken dir den Hut vom Schädel, Ian ersetzt mit seinem furiosen, außerordentlich durchdachten Gitarrenspiel ein ganzes Orchester, derweil Benjamin völlig ausfreakt. So was sah man selten: Bei At The Drive-In vielleicht, oder damals, als Dennis Lyxzen noch bei Refused schrie (mit dem Ben auch eine unwiderlegbare optische Ähnlichkeit verbindet). Ein rotgesichtiges, Schmerz verzerrtes, am ganzen Leibe wie elektrisch zuckendes Etwas mit weit aufgerissenen Augen rollt da über die Bühne, fällt rücklings ins Schlagzeug oder mit dem Gesicht nach vorne ins Publikum, springt wieder auf, singt, jauchzt, schreit, brüllt, kotzt regelrecht. Das Publikum, allesamt offenbar fleißige Downloader, kennen bereits jeden Song, kreischen, fallen und kollabieren mit und sind vor allem eines: froh, dabei gewesen zu sein. Sie covern Fugazi, die Hölle bricht los. Und spätestens bei ihrer ersten Single "Try Honesty" ist klar: Billy Talent sind auf dem Sprung. Sie treffen den Nerv. In so kleinem Rahmen wird man sie wohl nie mehr zu sehen bekommen. So steht man einfach da und ist begeistert. Und bei all dem wunderbar kanalisierten Krach, dem Wahnsinn und der Intensität erinnert man sich an das, was die andere, die ruhige Reinkarnation dieses Derwischs da vorhin im Interview sagte: "Das Beste daran, dass wir jetzt einen soliden Vertrag haben und ein gewisses Interesse provozieren, ist dies: Jetzt haben wir es endlich unseren Familien und den ganzen Skeptikern bewiesen, die uns seit zehn Jahren einzureden versuchen, wir sollen diese verdammten Instrumente doch an den Nagel hängen und etwas Vernünftiges lernen. Heute Morgen habe ich mit meiner Mama telefoniert und gesagt: 'Hi Mom, I'm now in Germany, because they like what we do!' Das hat so gut getan..." Verhalten sich so angehende, ach so harte Rockstars? Wohl kaum. Höchstens die von Morgen. In einem Jahr sind wir klüger.


 
 
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